Flechten – Leben von Luft und Liebe
Sie sind anspruchsvoll, was ihre Umwelt betrifft, färben rotes Gestein ganz grün und sehen aus wie kleine Sträuchlein oder ein Geweih: die Flechten.
von Hans Conrad*
erschienen am Dienstag, 26. November 2021 im Sarganserländer.
Die Jahreszeit, während der Blumen leuchten und Grillen zirpen, ist einer stilleren Zeit gewichen. Obwohl im Herbst noch immer etwas leuchtet – und zwar golden der Rückzug von Laubbäumen und Lärchen.
Die übrige Natur präsentiert sich in unseren Breitengraden zu Winterbeginn aber eher bescheiden. Vielleicht beachtet man gerade deswegen bei Bergwanderungen eher andere kleine Wunder des Lebens: farbenfrohe und grafisch dekorative Flechten auf Steinen zum Beispiel. Eine auf den ersten Blick trockene Sache, die wohl eher weniger Stoff für literarische Ausflüge bietet. So sind auch die übrigen Beziehungen von uns Menschen zu den Flechten schnell aufgezählt: Dekorationsgegenstände, Bäumchen in Parkanlagen, in Modellen der Architektur oder Eisenbahnen, früher Teil in Parfumkreationen und Bonbons des sogenannten Isländisch Moos. Doch der Schein trügt, denn diese eigenartigen Organismen führen ein bemerkenswertes Leben.
Pilze und Algen lieben sich heiss
Flechten sind eine Art Doppellebewesen. Denn ein Pilz, der eigentlich für sich allein leben könnte, tut sich mit einzelligen Grünalgen zusammen. Es ist eine aussergewöhnliche Liebesbeziehung, die die beiden führen. Auch, da die Pilze in dieser Symbiose neue genetische Rezepte aus ihrem Erbgut packen. Und mithilfe ihrer innigen Partnerschaft bewohnen sie die unwirtlichsten Bereiche in den Lebensräumen: Steine in den Alpen mit Temperaturdifferenzen von fünfzig Grad plus bis fünfzig Grad minus, Baumstämme ohne Kontakt zu Mineralien oder sogar Betonwände. Viele der Pilze, die Flechten bilden, können nicht allein leben. Sie kommen nur als Flechtenpartner vor.
Bereits hiermit wird klar, dass das Leben einer Flechte mehr ist als eine klassische Symbiose wie etwa die eines Wurzelpilzes und eines Baumes – dabei bleibt der Pilz nur Pilz und der Baum nur Baum. Beim Zusammengehen eines Pilzes mit einer Alge zu einer Flechte entsteht hingegen ein neues Lebewesen, das nur so als Partnerschaft existieren kann.
Bei dieser Symbiose werden im Pilz ausserdem genetische Informationen aktiviert, die sonst stumm bleiben. Er bildet neue Strukturen, Formen und Gestalten mit besonderen Inhaltsstoffen, Flechtensäuren und Farbstoffen. Ansonsten bleibt er aber Pilz, seine Strukturen bestehen immer noch aus Chitin und er braucht Nahrung von einem anderen Organismus. In der Flechte wird er von Grünalgen ernährt. Wenn man sich vorstellt, dass ein winziger Pilz auf einem Stein ein paar Algen antrifft und sie zusammen eine Flechte gründen: Das muss wirklich heisse Liebe sein!
Es gibt übrigens Fälle, wo eine Pilzart mit zwei verschiedenen Algenarten eine Symbiose eingehen kann. Daraus entstehen dann auch zwei unterschiedlich aussehende Flechten.
Flechtenpilze sind zudem Schlauchpilze
Einige Pilze in Flechten sind noch in der Lage, für ihre eigene Fortpflanzung zu sorgen. Fortpflanzungsorgane sind farbige, winzige, becherförmige oder schüsselförmige, rundliche Gebilde (Apothecien), in denen Sporen gebildet werden. Die Art der Sporenbildung verrät uns die Verwandtschaft zu den Schlauchpilzen: Es werden acht Sporen in einem Schlauch (Ascus) produziert, so wie das unter anderem die beiden Schlauchpilze (Ascomyceten) Morchel und Lorchel machen.
Neben der Neugründung von Flechtensymbiosen werden von Flechten oft winzige Krümel (Isidien, Soredien) produziert, die vom Wind verweht werden. Sie bestehen aus ein wenig Pilzgeflecht (Mycel) und Algen. Die Mehrheit der Pilze, die in der Küche Verwendung finden, sind Ständerpilze.
Diese Bezeichnung kommt auch von einem mikroskopischen Merkmal, denn die vier Pilzsporen sitzen auf einem winzigen Ständer.
Eine Festung für die Alge
Die Algen in der Flechte betreiben Fotosynthese und stellen auch dem Pilz chemische Verbindungen zur Verfügung, damit er daraus seinen Körper aufbauen und den eigenen Stowechsel betreiben kann. Der Pilz ist die Festung für die Alge. Er packt sie ein und schützt sie mit einer derben Rinde vor Wasserverlust und zu starker Sonneneinstrahlung. Ausserdem verankert er die Flechte an Gestein und an Baumrinden.
Es gibt viele verschiedene Formen von Flechten: An kleine Sträuchlein erinnernde Strauchflechten, Blattflechten, Fadenflechten oder Krustenflechten sind nur einige davon. Gallertflechten können nach Regen bis zum Zehnfachen ihres sonstigen Volumens an Wasser aufnehmen.
Einige Flechtenarten besitzen als Partner Blaugrüne Bakterien (Cyanobakterien). Neben der Fotosynthese können diese zudem aus Luftstickstoff stickstoffhaltige Stoffe für sich selbst und für den Pilz produzieren, um damit ihre Eiweissproduktion zu verbessern. Flechten wachsen oft auf Oberflächen ohne Kontakt zum Boden. Das können Gesteinsschutt, Moose oder Zwergsträucher wie der Alpenazalee sein, frei und regellos herumliegend oder auf Baumrinden.
Liebe und viel Luft zum Leben
Tatsächlich scheint es, als würde die Luft den Flechten ausreichen, um leben zu können. Die Dicke des Körpers einer Flechte beträgt weniger als einen Millimeter. Im Verhältnis dazu ist die Körperoberfläche von Flechten sehr gross – weshalb die Qualität der Luft für ihr Leben von zentraler Bedeutung ist.
Dementsprechend wird das Zusammenspiel der Partner durch eine zu starke Luftbelastung gestört und kann zum Verschwinden der Flechte führen – sie stirbt. Daher gibt es an verkehrsreichen Strassen in Städten und in Industriegegenden, in denen die Luft stark belastet ist, praktisch keine Flechten mehr an Bäumen. Die Zahl der Flechtenarten nimmt jedoch glücklicherweise mit zunehmender Distanz von den Quellen der Luverschmutzung wieder zu.
Flechten sind als ökologische Pioniere sehr anspruchsvoll was die Umweltbedingungen an ihrem Standort betrifft.
Endolithische Lebensweise:
Krustenflechten krallen sich fest
Flechten führen eine endolithische Lebensweise. Im Alpenraum fallen die vielen dekorativen Flechten auf Steinen – die Krustenflechten – auf. Der Bewuchs ist manchmal so intensiv, dass man die Gesteinsoberfläche gar suchen muss. Besonders eindrücklich ist das in der Region zu sehen, und zwar an den Felswänden mit rotem Verrucano hinter den Murgseen. Hier sind riesengrosse Flächen der Felswände nicht mehr rot, sondern ganz grün von der Landkartenflechte und ihren verwandten Arten. Wie bei den Alpenpflanzen kann man feststellen, dass auf Kalk und Kalkböden oder silikatischen Gesteinen (beispielsweise Tone, Granit, Gesteine im Verrucano, Gneis, Sandsteine) und sauren Böden ganz unterschiedliche Flechtenpopulationen zu finden sind.
Im Kalkgebirge gibt es eher mehr flechtenlose Flächen. Je reiner der Kalk an Kalzit ist, umso schwieriger wird es für die Flechte, sich auf dessen Oberfläche niederzulassen. Der natürliche saure Regen (vom Kohlenstoffdioxid der Luft) und die Flechtensäuren verwittern den Kalzit chemisch. Kalk hat neben seinem eigentlichen gesteinsbildenden Hauptmineral Kalzit wenig andere Mineralien beigemischt. Die wichtigsten unter diesen Begleitstoffen sind die Tone, da sie in ihrem Mengenanteil den Wasserhaushalt und die Versorgung der Flechte mit Mineralien stark bestimmen.
Viele Flechten auf Kalk leben bis zu einer Tiefe von einem Millimeter im eigentlichen Kalkgestein drin, nur ihre farbige Oberfläche liegt ausserhalb und ist deshalb für uns sichtbar. Sie können sich mit ihren Flechtensäuren sozusagen in den Kalk hineinfressen, einen mikroskopischen Gesteinsschwamm bilden und sich somit besser und länger verankern. Das nennt man eine endolithische Lebensweise – im Stein drin eben.
Eine Gruppe von Flechten, zu der nur wenige Arten gehören, sind in der Lage, silikatische Gesteine mit Mineralien von sehr hohem Schwermetallgehalt wie Zink, Kupfer oder Eisen zu besiedeln. Die meisten dieser Arten fallen durch ihre intensive Rot- oder Orangefärbung auf.
Rund 2000 Arten in den Alpen
Interessant ist, dass man aufgrund der Flechtenpopulation auf die Art des Gesteins und die Beschaffenheit des Bodens schliessen kann. Flechten sind nämlich Erstbesiedler von Gesteinen und unfruchtbaren Böden und schaffen im Laufe vieler Jahre erste kleine Humuslager in Gesteinsritzen und zwischen Schutt, wodurch sie die weitere Besiedlung durch Moose und anderen Erstbesiedlern unter den Blütenpflanzen ermöglichen.
Einige Flechtenarten verlangen einen bestimmten Grad an Feuchtigkeit, andere wiederum eine dem Wind ausgesetzte und stark besonnte Oberfläche oder das milde Klima in einem Wald. Die Flechtenforscher haben heute gegen 30000 Arten beschrieben, wovon in Mitteleuropa und den Alpen etwa 2000 Arten vorkommen sollen. An ein paar Steinen einer alten Natursteinmauer auf den Alpen können deshalb mit etwas Glück über 40 Flechtenarten gefunden werden.
Sich in der Natur Zeit nehmen
Für Flechten benutzt man primär wissenschaftliche Namen, trotzdem haben sich daneben auch deutsche Namen eingebürgert. Unter den Flechten auf Gesteinen in den Bergen ist wohl die grüngelbe Gewöhnliche Landkartenflechte den meisten Menschen bekannt.
Bei den Rentierflechten erinnern die Verästelungen an die Geweihe der Rentiere. Die Echte Rentierflechte und die Wald-Rentierflechte lieben lichtreiche Standorte und kommen auch im hohen Norden vor. Getreu ihrem Namen sind sie ausserdem eine wichtige Nahrungsgrundlage der Rentiere. Wachsen an einem Ort mehrere Arten, kann man sie gut an den Farbunterschieden erkennen.
In Astgabeln und an Stämmen von Bergahorn mit genügend Luftfeuchtigkeit wächst die Lungenflechte. Mit ihren bis zu 30 Zentimeter langen und ebenso breiten «Blättern» kann man sie schon von Weitem erkennen. Ihre Unterseite erinnert in ihrer Struktur an Lungengewebe, daher der Name und in früheren Zeiten auch der Glaube an eine Heilwirkung von Absuden dieser Flechte.
Die gelbe strauchartige Wolfsflechte ist sehr auffällig und hängt an Stämmen von Nadelbäumen in der oberen Baumstufe unserer Berge. Man hat sie früher zum Vergiften von Ködern für Füchse und Wölfe benutzt.
Viele Flechtenarten sind einander sehr ähnlich und man braucht ein paar Chemikalien, Lupe und Mikroskop für ihre Unterscheidung und die genauere Bestimmung. Es kann aber auch ohne Bestimmungsbücher und Chemikalien ganz reizvoll sein, sich von einem Felsen, dem Waldboden in den Bergen oder den Steinen einer Natursteinmauer überraschen zu lassen, wie viele verschiedene Flechtenarten an diesen Orten zu finden sind. Ganz nach dem Motto «sich in der Natur Zeit nehmen».
- Hans Conrad leitet unter anderem auch Führungen durch das Unesco-Welterbe Tektonikarena Sardona.