Verführerische Schönheit
Orchideen stehen für absolute Schönheit – vor allem die tropischen Arten. Was haben denn die Einheimischen mit den Exoten gemein?
von Hans Conrad*
erschienen am Freitag, 21.Mai 2021 im Sarganserländer.
Orchideen übertreffen jede Fantasie für Formen, Farben und Düfte – das gilt sicherlich für die exotischen Schönheiten aus den Tropen. Die meisten dieser Arten – typisch sind die sehr grossen Blüten – wachsen dort auf Baumriesen dem Licht entgegen. In den Kulturen Ostasiens stehen sie für Eleganz, Erhabenheit, Reinheit und Spiritualität. Nach ihrer Einfuhr nach Europa ab dem 18.Jahrhundert wurden sie da Sinnbild für Reichtum und Macht – wer konnte sich diese seltenen Blumen aus den abgelegensten Orten der Welt schon leisten? In Europa galt bis Anfang des 20.Jahrhunderts vieles, was schön, bezaubernd und begehrt war, bald einmal als verführerisch und erotisch, vielleicht sündig.
Und unsere einheimischen Orchideen?
Die Orchideen Europas wachsen auf dem Boden, und wenn sie 40 oder 70 cm hoch werden, gehören sie schon zu den beachtlichsten Arten. Die zwei grössten Orchideen der Schweiz werden gerade mal knapp einen Meter hoch: Purpur Knabenkraut und die Bocksriemenzunge im Mittelland. Im Sarganserland gibt es vielleicht 45 verschiedene Orchideen. Das scheint zwar viel zu sein, einige Arten sind aber sehr selten anzutreffen. Welche der oben beschriebenen Attribute für die exotischen Schönheiten können wir bei unseren kleineren Orchideen finden? Diese kleine Auswahl versucht, eine Antwort zu geben.
Orchideen-Knollen als Heilmittel
Vielen Naturfreunden sind die Knabenkräuter bekannt. Farbenfroh und manchmal in ansehnlichen Beständen leuchten sie für Insekten als Bestäuber.
Sie gehören zur Gattung Orchis. Der Name stammt von den alten Griechen: Der grosse Naturforscher Theophrast (370 – 285 v. Chr.) nannte sie Orkhis, Hoden. Die Knabenkräuter besitzen an ihren Wurzeln zwei ungleich grosse Knollen, in denen die Reservestoffe zum Austreiben gespeichert sind. Das hat gleich der ganzen Pflanzenfamilie den Namen Orchideen geben, obwohl die wenigsten Orchideenarten solche Knollen haben. Diese Knollen werden heute noch, vor allem in östlichen Mittelmeergebieten, zu Mehl verarbeitet und in verschiedenen Zubereitungen als Aphrodisiakum, Heilmittel oder Potenzmittel verspeist. Grosse Fruchtbarkeit auf den ersten Blick ähnlich wie die Knabenkräuter sehen die Fingerwurzarten aus. Ihre Wurzelstöcke sind wie eine Hand mit Fingern: Dactylorhiza – Fingerwurz. Eine andere häufige Orchidee hat auch einen nach der Form ihres Wurzelwerkes benannten Namen: Vogelnestwurz, Neottia nidus-avis. Diese Art wird häufig übersehen, da sie bräunlich an schattigen Stellen lebt und überhaupt keine Farben produziert, weder Blütenfarben noch das lebenswichtige Blattgrün. Fast wie ein Pilz verdaut sie mit ihrer weiten, an ein Vogelnest erinnernden Wurzel, vermoderndes Material: Sie ist ein Fäulnisbewohner, ein sogenannter Saprophyt und kein Parasit. Dabei hilft ihr zusätzlich ein in den Zellen des äusseren Wurzelbereiches lebender Pilz. Dieser Wurzelpilz bildet eine Symbiose mit der Orchidee. Wurzelpilze kennen wir bei sehr vielen Pflanzen, vor allem bei den Bäumen und bei den Orchideen. Eine Orchidee produziert mit der Frucht von nur einer Blüte, einer Kapsel, Millionen von Samen. Orchideen stehen daher auch für grosse Fruchtbarkeit. Die Samen wiegen nur etwa ein Milligramm. Sie haben keine Nährgewebe wie Bohnen, Getreidekörner und andere Pflanzen. Für die Auskeimung und das Wachstum brauchen sie einen Pilz. Dieser dringt in den Samen ein und ernährt ihn. In vielen Fällen verdauen die Pilze die schwachen Samen. Das Zusammenleben der beiden Organismen, die Symbiose Pilz-Orchidee, ist äusserst fragil und von speziellen Umgebungsfaktoren im Boden abhängig. Das alles schränkt die Verbreitung von Orchideen auf spezielle Standorte ein. Der Sinn der Farben und Düfte von Blumen ist nicht uns zu gefallen, sondern den Bestäubern. Das sind in unseren gemässigten Zonen meistens Insekten: Schmetterlinge, Mücken, Hummeln, Bienenartige und Wespenartige. Die Insekten werden während der Bestäubung mit kalorienreichem Nektar belohnt. Der Vorgang läuft manchmal nach komplizierten und seltsamen Protokollen ab. Zumindest bei den Orchideen.
Einfach ist das bei der Mückenhandwurz, Gymnadenia conopsea. Die Blüten tragen einen langen Sporn mit einer Nektardrüse zuhinterst. Der Schmetterling braucht exakten Blütenkontakt, um mit dem Rüssel dorthin zu gelangen. Dabei lädt er zwei Pollenpakete ab und nimmt allenfalls neue mit. Die Pyramidenorchis oder Spitzorchis, Anacamptis pyramidalis ist auch eine Schmetterlingsblume und wächst, wie auch das Helm-Knabenkraut, oft in grossen Beständen am Rheindamm. Einen besonders langen Nektarsporn haben die Blüten der beiden Breitkölbchen, die eine Art für die Tagfalter, die andere Art für die Nachtfalter. Knabenkräuter und Fingerwurze besitzen ebenfalls Sporne, die sind aber leer: Es sind nämlich Nektartäuschblumen.
Sex und kein Lohn – viel List
Die Krönung von Verführung, Täuschung und Erotik sind die Ragwurzarten – Fliegenragwurz oder Hummelragwurz, die sich männlichen Wespenarten als potentielle Sexualpartnerin anbieten. Man vergisst die erste Begegnung mit den zarten Stängeln in einer Wiese, auf denen farbige Fliegen sitzen, nicht mehr. Bei näherem Hinsehen sind das aber sonderbare Blüten, Fliegen täuschend ähnlich. Ophrys insectifera, Fliegenragwurz, heisst die Pflanze. Etwas üppiger präsentiert sich die Hummelragwurz, Ophrys holoserica. Bei ihr können wir den Aufbau einer Orchideenblüte gut erkennen. Der äussere Kreis mit drei Blütenhüllblätter (Perigonblätter) ist einfach geformt. Sie können manchmal gross ausgebildet sein und zum Beispiel einen Helm bilden. Von der Mittleren der drei inneren Perigonblätter wird so eine Lippe gebildet und die beiden seitlichen können je nach Orchideenart ebenfalls abenteuerlich geformt sein. Die Hummelragwurz hat ein breites Spektrum an Gesichtern.
Orchideenforscher wollen darin in bestimmten Zeichnungen und Anhängseln Teile eines Insektenweibchens erkennen. Wie bei allen Orchideen wird der Pollen nicht wie Staub mitgegeben, sondern in zwei Kügelchen (Pollinien) mit Stiel nach dem Prinzip «Alles oder Nichts». Die Ragwurzarten, den Weibchen von Pelzbienen ähnlich, wollen männliche Bienenarten anlocken. Diese sollten sich da niederlassen, um eine Pseudokopulation zu machen und dann die beiden Pollinien auf den Kopf geklebt mitzunehmen – gehörnt fliegen die Männchen weg, sie sind auf eine Täuschung für Weibchen hereingefallen.
Einen Lohn, Nektar, gibt es nicht. Sie lassen sich weiter täuschen und verteilen so die Pollenpost. Die Täuschung ist aber noch raffinierter: Die Blüten erzeugen einen ähnlichen Sexuallockstoff, ein Sexualpheromon, wie es die Weibchen ganz bestimmter Pelzbienen machen. Da diese meistens erst zwei, drei Wochen nach den Männchen ausschlüpfen und fliegen, funktioniert der Trick immer wieder. Wenn die Orchideen langsam verblühen und die Weibchen unterwegs sind, funktioniert die richtige sexuelle Begegnung bestens. Die Weibchen erfreuen sich erfahrener Männchen. Ragwurzarten sind also Sexualtäuschblumen.
Über Wochen und Monate blühen!
Die unterschiedlichsten Tricks bei vielen Orchideen verlangen Geduld. Der gewünschte Bestäuber fliegt selten und langes Warten gehört zum Erfolg. Viele Orchideen blühen wohl deshalb über Wochen und sogar Monate.
Empfindlich und anspruchsvoll.
Im Sommer 2020 zeigte sich eine Rarität in unserem Gebiet: die Bienenragwurz. Sie hat sich in die gemässigten Zonen verirrt, wo ihre Bestäuber fehlen. Aus diesem Grund macht sie bei uns Selbstbestäubung. Im Mittelmeergebiet gibt es an die 260 Ragwurzarten. Die Vielfalt wird noch erhöht durch die vielen Kreuzungen untereinander. Das gilt für Orchideen allgemein: Die Schranken für die Bildung von Bastarden sind tief. Ohne solche mitzuzählen gibt es bei den Orchideen 29000 Arten. Sie bilden die zweitgrösste Pflanzenfamilien auf der Welt. Trotzdem sind sie wegen ihrer Ansprüche an die Standorte selten und reagieren empfindlich auf kleine Veränderungen. In der Rheinau beispielsweise wurden vor drei Jahrzehnten noch an die 50 Moosorchis, Goodyera repens, gezählt. Die kleinen, rund 20 cm hohen Pflanzen scheinen alle verschwunden zu sein. Der Boden ist trockener geworden und die Standorte sind zunehmend verbuscht. Die Moosorchis ist auch sehr empfindlich auf mit dem Wind eingetragene gedüngte Bodenpartikel – Lufteutrophierung heisst das.
Frauenschuh in den Alpen häufig
Seit vielen Jahren werden die bekannten Orchideenstandorte der Schweiz beobachtet und zum Teil mit aktiven Pflegemassnahmen erhalten und gefördert, zum Beispiel mit Abzäunen von Standorten und späterem Mähen, Roden von sich ausbreitenden Waldrändern oder dem Schutz vor Streifung mit Weidetieren. Das braucht Gespräche mit Landeigentümern. Jährlich wird ein nationales Monitoring durch die AGEO für eine Orchideenart durchgeführt, im 2021 für den Frauenschuh. Der Frauenschuh, Cypripedium calceolus, ist die auffälligste heimische Orchideenart. Er kann bis zu 60 cm hoch werden und bildet gerne grössere zusammenhängende Bestände auf Kalk mit einer guten Humusauflage. Der Frauenschuh ist in den Voralpen und Alpen noch relativ häufig. In der übrigen Schweiz sind sehr viele Standorte erloschen. Bis eine Pflanze blüht, dauert das bis zu zehn Jahre.
Aphrodite verliert einen Schuh.
Auch der grosse gelbe «Schuh» ist ein Trickser. Er bietet Bienenarten einen Nistplatz an, wodurch das Insekt durch die Öffnung hineinkriecht und ausgleitet. Es bemerkt die Nistplatztäuschung und will die Höhle verlassen. Das geht nur über einen nicht glitschigen Steg an den Narben und Pollinien vorbei. Für die Arbeit gibt es keinen Lohn. Allerdings könnte es auch von einer gelben Krabbenspinne in dieser Höhle gefangen und verspeist werden. Der Frauenschuh ist die einzige grosse Orchidee der Gattung Cypripedium in Europa. Zwei kleine, seltene Arten gibt es noch in Nordeuropa, das Hauptverbreitungsgebiet dieser Frauenschuh-Gattung ist Nordamerika. Interessant ist auch die Geschichte der Namensgebung: Cypris (gr.) bedeutet Bewohnerin Zyperns und Pedilon Sandale. Die griechische Schönheitsgöttin Aphrodite (lat. Venus) wohnte auch einmal dort, daher ihr Beiname Cypris. Paphos auf Zypern ist eine alte Kultstätte der Aphrodite, wo sie ihrem Liebhaber Adonis nachgeeilt sein soll und einen Schuh verloren haben. Eine Schaf-hirtin fand den Schuh. Als sie ihn anziehen wollte, verwandelte er sich in eine Blume. In der Romandie heisst der Frauenschuh «sabot de Vénus».
Elegant, schlank und gross: Ein besonderer und letzter Blickfang an Waldrändern mit Kalkboden ist das sehr elegante, schlanke und gross gewachsene Rote Waldvögelein. In einem lockeren Blütenstand angeordnet leuchten die auffälligen roten Blüten von Weitem und locken die Bestäuber an – einzig und allein mit Schönheit.
Exklusiv für den «Sarganserländer» gestaltet Hans Conrad ab sofort und in loser Reihenfolge unsere neue Serie «Sarganserland Natur». Bilder Kugelorchis und Schwärzliche Orchis von Thomas Stäheli.
- Hans Conrad leitet unter anderem auch Führungen durch das Unesco-Welterbe Tektonikarena Sardona.